Good vibes - bad vibes.
Gefühlt ist manchmal überall um uns herum Krise. Egal ob Coronakrise, Gaskrise, Ukraine-Krise oder Klimakrise: Täglich erfahren wir davon in den Nachrichten oder erleben sie konkret in unserem Alltag. Es gibt Krisen, die die ganze Welt betreffen und solche, die uns im persönlichen Leben begegnen - Identitätskrisen, Ehekrisen, Erziehungskrisen die Midlifecrisis und noch einige mehr. Wie schafft man es trotzdem, den Kopf über Wasser zu halten? Den eigenen Optimismus nicht zu verlieren?
Auf die Nerven gehen - was unser Körper damit sagt
Eine mögliche Antwort auf diese Frage finden wir, wenn wir unser Nervensystem etwas genauer betrachten. Besonders in krisenhaften Zeiten möchte man sich in seinem Körper, seiner Umgebung und in der Beziehung zu anderen Menschen sicher fühlen. Das sogenannte Autonome Nervensystem zeigt uns dabei an, wann wir uns sicher fühlen können und wann nicht: Fühlen wir uns wohl, geborgen, gut aufgehoben? Oder haben wir Bauchgrummeln und uns geht - im wahrsten Sinne des Wortes - alles auf die Nerven? Inklusive Herzrasen und Schweißausbrüchen? All das sind Signale, die uns das Nervensystem sendet. Wir nehmen es wahr, noch bevor unser Gehirn es bewusst registriert.
Das, was wir als Körpersignale empfangen, prägt unser Befinden: Sind wir gut drauf und entspannt? Oder fühlen wir uns gestresst und unter Druck?
Das Nervensystem als Signal-Leiter
Der Neurowissenschaftler Dr. Stephen Porges hat viel zum Thema Nervensystem geforscht. Man kann sich das Nervensystem wie eine Leiter vorstellen. Je nachdem, wo wir uns gerade auf dieser Leiter befinden, ist unser Erleben anders. Wir sind in einem bestimmten Zustand, haben eine bestimmte Stimmung oder Sichtweise. Man kann sich das so vorstellen, als würde man sich selbst, sein Leben und die Welt jeweils durch eine ganz andere Brille betrachten. Wie verändert sich nun unser Erleben, wenn wir auf dieser Leiter auf- oder absteigen? Man kann drei grundsätzlich verschiedene Erlebensweisen auf der Leiter unterscheiden, die alle Menschen kennen und die in einer bestimmten Rangfolge ablaufen.
Das obere Ende der Leiter: Wohlgefühl
Auf dem oberen Ende der Leiter fühlen wir uns ziemlich wohl. Unser Herz schlägt regelmäßig, wir atmen tief und voll und fühlen uns gut in Kontakt und verbunden mit anderen Menschen. Wir können uns auf Gespräche konzentrieren und ablenkende Geräusche ausblenden. Wir fühlen uns „sortiert“ und haben das Gefühl, alles recht gut im Griff zu haben. Die Welt fühlt sich für uns sicher und friedlich an.
In der Mitte der Leiter: Anspannung
Wenn wir nun die Leiter weiter hinuntersteigen, wird es schon ungemütlicher: Wir fühlen uns ängstlich, wütend oder angespannt. Unsere Umwelt erscheint uns chaotisch, gefährlich oder unfreundlich. In diesen Zustand kommen wir, sobald wir einen Anflug von Unbehagen verspüren. Etwa wenn irgendetwas in uns oder um uns herum uns nicht ganz geheuer vorkommt oder nicht stimmig ist. Erreichen uns Hinweise auf Gefahr, reagieren wir automatisch und unbewusst. Unser Körper bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. In diesem Zustand schlägt unser Herz schneller, wir atmen kurz und flach und sind wachsam, angespannt oder gereizt. Wenn man sich dauerhaft in diesem Zustand befindet, können Schlafstörungen entstehen oder auch Bluthochdruck, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme, Magenprobleme oder Verspannungen bis hin zu depressiven Verstimmungen.
Am unteren Ende der Leiter: Notaus
An das untere Ende der Leiter gelangen wir, wenn Kampf oder Flucht uns nicht weiterhelfen bzw. gar nicht möglich sind. Also in Situationen, in denen wir in der Falle sitzen und durch Aktivität nichts erreichen können. Es handelt sich um eine Art Notabschaltung unseres Organismus. Weil man sich in diesem Zustand verlassen und verzweifelt fühlt, schaltet man oftmals ab und fühlt häufig gar nichts mehr.
Normalität ist der stetige Wechsel zwischen den Zuständen
Wir alle kennen diese drei unterschiedlichen Zustände, sowohl Kinder als auch Erwachsene. In uns allen ist diese „Leiter“ drin. Es ist wichtig, zu wissen, dass es vollkommen normal ist, sich zwischen diesen verschiedenen Zuständen zu bewegen. Im Laufe eines Tages steigen wir auf der Leiter mehrfach auf und ab. Es ist normal, dass man sich manchmal wütend und angespannt fühlt (mittlerer Bereich der Leiter). Es ist normal, dass man sich manchmal hoffnungslos und im Stich gelassen fühlt (unteres Ende der Leiter). Es ist auch normal, dass man sich glücklich, sicher und aktiv fühlt (oberes Ende der Leiter).
Wir wünschen uns vielleicht, immer am oberen Ende der Leiter zu stehen, wo Sicherheit und Verbundenheit vorherrscht. Doch das ist nicht der Normalzustand. Normal ist, dass wir uns flexibel auf und ab bewegen. In Krisenzeiten besteht jedoch die Gefahr, dass wir uns nur noch in den unteren Bereichen der Leiter aufhalten und nicht mehr wissen, wie wir in den oberen Teil gelangen können.
Was kann ich selbst in einer persönlichen Krise tun?
Wenn wir lernen, uns selbst zu regulieren - also die Fähigkeit erlernen, physiologischen Stressreaktionen angemessen zu begegnen - können wir auch Krisen besser verkraften. Wir können dann mit unerwarteten oder bestürzenden Ereignissen besser umgehen. Wenn wir uns also in einem natürlichen Rhythmus auf der Leiter hinauf und hinunter bewegen, fällt es uns leichter, Ressourcen zu entdecken und zu nutzen. Das hilft letztlich nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Kindern und Mitmenschen.
Stellen Sie sich vorbeugend zum Beispiel folgende Fragen:
- Was tut mir gut?
- Wie sorge ich immer wieder dafür, dass es mir gut geht?
- Wo signalisiert mir mein Autonomes Nervensystem: An diesem Ort kannst du dich entspannen, hier kannst du dich sicher fühlen?
- Mit welchen Menschen fühle ich mich geborgen und gut aufgehoben?
- Wer könnte mich (bei Bedarf von professioneller Seite) unterstützen?
- Wann beruhigt sich mein Herzschlag, wann geht meine Atmung tief und voll?
- In welcher Situation kann ich meine Schultern sinken lassen und tief durchatmen?
- Wo fühle ich mich aktiv, interessiert und aufgeschlossen?
- Wo fühle ich mich buchstäblich wohl in meiner Haut?
Literatur: Dana, Deb (2021). Die Polyvagal-Theorie in der Therapie. Probst-Verlag.